Wer heilt, hat Recht? Nein, falsch!

Von Ralph Rückert, Tierarzt

Das Thema stand eigentlich nicht auf meinem Redaktionsplan, aber nachdem ich mir diesen Schlachtruf der Esoterik- und Pseudomedizin-Szene in den letzten Wochen gefühlt hunderte Male habe anhören müssen, wird es jetzt doch Zeit für eine kurze Klarstellung.

In dem Satz fehlt einfach ein wichtiges Wort, das ihn erst wirklich korrekt macht:

„Wer nachweislich / beweisbar heilt, hat Recht.“

Ich bin schon mehrfach auf die Tatsache eingegangen, dass der Körper eines Säugetieres (natürlich uns Menschen einschließend) eine hohe Selbstheilungskapazität hat. Viele Krankheiten werden auch ohne Hilfe von außen letztendlich überwunden, wenn das auch ohne die Segnungen der modernen Medizin häufig mehr Zeit braucht und mit mehr Leiden verbunden ist. Führt nun irgendwer, ob nun Arzt, Schamane, Medizinmann, Geistheiler, Gesundbeter, Heilpraktiker oder der Patient selbst, eine wie auch immer geartete Intervention durch, die zeitlich mit einer erfolgreichen Überwindung der jeweiligen Erkrankung zusammenfällt, so weiß man logischerweise erst mal nicht, was jetzt passiert ist: Behandlungserfolg oder Selbstheilung? Werden gar mehrere Interventionen gleichzeitig durchgeführt – man denke an die Kombination einer medizinischen und einer pseudomedizinischen Behandlung – wird die Bewertung noch schwieriger.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, und zwar aus ethischen und rechtlichen Gründen, die reproduzierbare (also für alle Patienten geltende) Wirksamkeit einer Therapie zu beweisen, weil der Patient natürlich ein unbestreitbares Recht darauf hat, für sein Geld eine tatsächlich nutzbringende Behandlung zu bekommen. Wie führt man diesen Beweis? Als ideales Instrument gelten randomisierte, kontrollierte Studien (randomized controlled trials, RCTs).

„Randomisiert“ bedeutet (und hier zitiere ich aus einer Definition), „dass die Zuordnung zu einer Behandlungsgruppe (etwa Medikament A oder B) nach dem Zufallsprinzip erfolgt. Zweck der Randomisierung ist erstens die Einflussnahme des Untersuchers (Befangenheit) auf die Zuordnung einer Behandlung und dadurch auf die Studienergebnisse auszuschließen und zweitens die gleichmäßige Verteilung von bekannten und nicht bekannten Einflussfaktoren auf alle Gruppen sicherzustellen. Dazu muss die Anzahl der zu untersuchenden Personen ausreichend groß sein.“

„Kontrolliert“ heißt eine Studie, wenn die Ergebnisse in der Studiengruppe mit denen einer Kontrollgruppe ohne Intervention oder einer Kontrollintervention verglichen werden. Die Kontrollintervention ist die bisher wirksamste Maßnahme oder eine Scheinintervention, zum Beispiel bei Medikamenten ein Placebo.

Der (angesichts seines weiteren und kurzen Lebensverlaufes irgendwie bitteren) Ruhm für die erste evidenzbasierte Veröffentlichung im deutschen Sprachraum kommt dem Chirurgen und Geburtshelfer Ignaz Semmelweis (1818 – 1865) zu, und zwar für seine sensationelle Arbeit mit dem Titel „Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers“ von 1848.

Genau diese Studie von Semmelweis kann uns außerdem gleich als Beleg für einen ganz entscheidenden Vorteil eines evidenzbasierten Vorgehens dienen. Geht es in Diskussionen um pseudomedizinische Verfahren, bekommt man ja oft die Mutter aller Totschlagzitate zu hören: „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt.“ Shakespeare ist zwar grundsätzlich verantwortlich für das Zitat, allerdings nicht für seine inflationäre Verwendung in sinnentstellend falscher Übersetzung. Aber egal: Ja, es gibt zu jeder Zeit Dinge, die wir noch nicht wissen. Kaum eine Sparte weiß das besser als die Medizin, deren Wissen sich geschätzt alle fünf Jahre verdoppelt. Bei Semmelweis war das auch so: Er konnte noch gar nicht wissen, dass Bakterien die Auslöser des Kindbettfiebers waren. Dafür war er ca. 25 Jahre zu früh dran. Aber er konnte durch einen selbst aus heutiger Sicht völlig korrekten Studienansatz definitiv beweisen, dass es in Bezug auf die Sterblichkeit durch Kindbettfieber einen enormen Unterschied ausmacht, ob man mit den gleichen ungewaschenen Griffeln, mit denen man zuvor eine gammlige Leiche seziert hat, eine Gebärende vaginal untersucht, oder ob man sich vorher die Hände desinfiziert. Er konnte also den Erfolg der Intervention „Händedesinfektion“ zweifelsfrei beweisen, ohne überhaupt zu wissen, wie sich das wissenschaftlich erklären ließ.

Es gilt also: Die Intervention funktioniert nachweislich oder nicht, völlig unabhängig davon, ob man weiß, was da wissenschaftlich genau dahinter steckt. Funktioniert die Intervention nicht, ist es natürlich unsinnig, das obige Zitat zur verzweifelten Verteidigung des durchgefallenen Therapiekonzeptes heranzuziehen, denn dass es der Wissenschaft noch nicht bekannte Zusammenhänge geben könnte, hat damit ja nicht das Geringste zu tun.

Semmelweis hätte es sich einfach machen können: Hände desinfizieren, fünf Gebärende untersuchen und dann, nachdem alle fünf Mütter kein Kindbettfieber bekommen haben, in Triumphgeschrei ausbrechen und einfach darauf bestehen, dass damit seine Theorie bewiesen wäre, analog zu dem heutzutage üblichen Pseudomedizin-Gewäsch von wegen „Ich habe damit immer sehr gute Erfahrungen gemacht…“. Wäre aber logischerweise völlig falsch gewesen. Die Verlustquoten durch Kindbettfieber in der Geburtshilflichen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien waren mit 12,3 Prozent verheerend. Trotzdem kann man sich leicht ausrechnen, dass fünf Gebärende nacheinander, die kein Kindbettfieber bekamen, gut und gerne auch Zufall hätten gewesen sein können. Die nach Einführung einer verpflichtenden Händedesinfektion vor geburtshilflichen Untersuchungen dann aber im Rahmen seines Versuchsansatzes und in der gesamten Klinikabteilung erzielte Reduktion der Sterberate um mehr als 75 Prozent war ein definitiver Beweis für die Wirksamkeit seiner Intervention, und zwar ein derartig zwingender Beweis, dass sich sein Freund und Kollege Gustav Adolph Michaelis vor lauter Kummer über unzählige Frauen (inklusive seiner Cousine), die er aus Unwissenheit ums Leben gebracht hatte, mit gerade mal 50 Jahren das Leben nahm.

Damit konnte Semmelweis also mit Fug und Recht behaupten, dass er geheilt bzw. enorm viele Todesfälle verhindert hat. Und so ist das halt bis heute: „Wer heilt, hat Recht“ ist reiner Bullshit, aber „Wer nachweislich heilt, hat Recht“ ist völlig korrekt. Ein einziges zusätzliches Wort reicht, um diesen blöden Spruch aus der Schmuddelecke der Denkfaulheit zu befreien.

Wer es lieber halbwegs kurz mag, kann hier getrost aussteigen. Eigentlich ist alles gesagt. Aber ich habe, als ich den Artikel eigentlich schon beendet hatte, einen Facebook-Kommentar gefunden, der zeigt, wie schwer es für manche (oder viele?) ist, so einfache Zusammenhänge zu verstehen. Ab hier also Bonusmaterial. Bitte nicht lesen und sich dann darüber beschweren, dass der Artikel viel zu lang ist!

Der Kommentar: „Evidenzbasiert“ … immer wieder wird besonders DARAUF verwiesen. Wer bitte entscheidet denn was als „Evidenz“ überhaupt gewertet werden darf? Ein Nachweis zur Wirkung ist doch genauso ein geheiltes Tier, das auf einem bestimmten Weg behandelt wurde, oder MUSS es immer eine umfangreiche Studie sein, die jahrelang ausgelegt und nicht selten von Pharmaherstellern in Auftrag gegeben und finanziert wurde? Dann lass halt den Begriff „Medizin“ weg, wenn Dich das stört. Hauptsache, es wirkt. Und natürlich behandelt man auch die Schmerzen, aber die URSACHE der Schmerzen zu behandeln, kann auf verschiedenen Wegen geschehen. Manche vertrauen dabei halt auf den vermeintlich schnellen Weg beim „Tierarzt“, andere, gehen den für sie selbst wahrscheinlich härteren Weg und stellen (z.B. bei Arthrose) die Ernährung um und nutzen natürliche Wege wie diverse Gewürze, Bewegungstraining, u.a.m.“

Okay, wer entscheidet, was als Evidenz gewertet werden darf? Es gibt zur Einteilung von Studien und Veröffentlichungen klar definierte Evidenzklassen. In Bezug auf ein bestimmtes Therapieverfahren sind das:

Klasse I: gilt nach aktueller Studienlage als gesicherte Empfehlung, immer akzeptabel, sicher und wirksam

Klasse IIa: gilt nach aktueller Studienlage als akzeptabel und sinnvoll (sehr gut bewiesener Vorteil)

Klasse IIb: gilt nach aktueller Studienlage als optional anwendbar (gut bewiesener Vorteil, Therapiealternative für Erfahrene)

Klasse X: gilt nach aktueller Studienlage als unbestimmbar; keine derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisse oder Gegenstand weiterer Untersuchungen oder weder nachgewiesener Nutzen noch mögliche Schädigung

Klasse III: gilt nach aktueller Studienlage als nicht indiziert, nicht nützlich, möglicherweise schädlich

In Bezug auf eine bestimmte Studie / Veröffentlichung oder Metaanalyse sind das:

Stufe Ia: Wenigstens eine Metaanalyse auf der Basis methodisch hochwertiger randomisierter, kontrollierter Studien

Stufe Ib: wenigstens ein ausreichend großer, methodisch hochwertiger RCT

Stufe IIa: wenigstens eine hochwertige Studie ohne Randomisierung

Stufe IIb: wenigstens eine hochwertige Studie eines anderen Typs, quasi-experimenteller Studie

Stufe III: mehr als eine methodisch hochwertige nichtexperimentelle Studie wie etwa Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fall-Kontroll-Studien

Stufe IV: Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Autoritäten (aus klinischer Erfahrung); Expertenkommissionen; beschreibende Studien

Stufe V: Fallserie oder eine oder mehrere Expertenmeinungen

Für praktisch tätige Mediziner:innen ist es angesichts einer Flut von Veröffentlichungen eigentlich kaum mehr möglich, alles für den eigenen Tätigkeitsbereich Relevante zu lesen und zu bewerten. Hier kommt die Cochrane Collaboration ins Spiel, ein globales, unabhängiges Netzwerk aus Wissenschaftlern, Ärzten, Angehörigen der Gesundheitsfachberufe, Patienten und weiteren an Gesundheitsfragen interessierten Personen. Die Cochrane Collaboration setzt sich dafür ein, dass Entscheidungen zu Gesundheitsfragen weltweit auf Basis hochwertiger, relevanter und aktueller wissenschaftlicher Evidenz getroffen werden, und fördert diese Entscheidungsfindung durch die Erstellung und Verbreitung hochwertiger systematischer Übersichtsarbeiten und Metaanalysen sowie anderer Formate aufbereiteter Evidenz. Ich habe mal gelesen, dass die Arbeit der Cochrane Collaboration seit ihrer Gründung 1993 mehr Menschen das Leben gerettet haben könnte als jede andere Entwicklung der Medizin (Hinweis: Die Auflistungen und der Text zu Cochrane kommen weitgehend von Wikipedia).

Zurück zu dem Kommentar: „Ein Nachweis zur Wirkung ist doch genauso ein geheiltes Tier, das auf einem bestimmten Weg behandelt wurde, oder MUSS es immer eine umfangreiche Studie sein, die jahrelang ausgelegt und nicht selten von Pharmaherstellern in Auftrag gegeben und finanziert wurde?“ Dass EIN geheiltes Tier, das auf einem bestimmten Weg behandelt wurde, absolut keinen Wirkungsnachweis darstellt, sollte für alle, die meinen Text bis hierher gelesen haben, eigentlich klar sein wie Kloßbrühe. Gehen wir einfach zurück zu Semmelweis: Wenn eine Krankheit 12 Prozent der Patientinnen über die Wupper schickt, dann bedeutet eine Patientin, die NICHT stirbt, für die Bewertung einer Intervention rein gar nichts, weil das nur die Verwirklichung einer sowieso 88 Prozent betragenden Wahrscheinlichkeit ist. Wende ich dagegen die Intervention auf 100 Patientinnen an, mit einer Kontrollgruppe von ebenfalls hundert Patientinnen, DANN bekomme ich tatsächlich ein aussagekräftiges Bild. Wie gesagt: Eigentlich doch wirklich sehr einfach zu verstehen, für den Kommentarverfasser aber offenbar eine unüberwindbare Herausforderung.

Weiter schreibt er: „Und natürlich behandelt man auch die Schmerzen, aber die URSACHE der Schmerzen zu behandeln, kann auf verschiedenen Wegen geschehen. Manche vertrauen dabei halt auf den vermeintlich schnellen Weg beim „Tierarzt“, andere gehen den für sie selbst wahrscheinlich härteren Weg und stellen (z.B. bei Arthrose) die Ernährung um und nutzen natürliche Wege wie diverse Gewürze, Bewegungstraining, u.a.m.“. Diese Einlassung hat mich so richtig verdutzt, denn er baut hier einen vermeintlichen Gegensatz auf und versucht die „Alternativmedizin“ mit fremden Federn zu schmücken, so in dem Sinne, dass die echte Medizin bei der Behandlung von Arthrosen nur Schmerzmittel kennen und die Pseudomedizin natürlich den schwierigeren, aber ganzheitlicheren Ansatz mit Ernährungsumstellung, Verwendung bestimmter Gewürze und Bewegungstraining wählen würde. Keine Ahnung, ob das ahnungslos oder dreist ist. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass so gut wie jeder an Patienten bzw. Patientenbesitzer gerichtete medizinische Ratgeber auf die drei Säulen der konservativen Arthrose-Therapie abhebt: Schmerzbekämpfung, Gewichtsverlust und Bewegungstherapie. Die Schmerzen müssen unterdrückt werden, damit Bewegungstherapie überhaupt sinnvoll möglich wird und zusätzlich belastende Fehlstellungen möglichst lang verhindert werden. Das Gewicht zu schwerer Patienten muss runter, um zum einen die biomechanische Belastung und zum anderen die lange bekannte Produktion von entzündungsfördernden Substanzen im Fettgewebe zu vermindern. Und auch der Nutzen des In-Bewegung-Bleibens („use it or lose it“) ist evidenzbasiert nachgewiesen. Zu den Gewürzen: Klingt wahnsinnig „alternativ“ und „ganzheitlich“ und auch ganz so, als würde sich die böse „Schulmedizin“ rein gar nicht um sowas kümmern. Dazu nur eine Tatsache: Bis Ende 2020 konnte man auf der medizinischen Suchplattform PubMed ca. 16.000 Arbeiten und Studien zur (immer noch nicht erwiesenen) medizinischen Wirkung von Curcumin finden. Ähnlich sieht es mit allen möglichen anderen, denkbaren Heilpflanzen aus. Wie schon mehrfach erwähnt: Die wissenschafts- und evidenzbasierte Medizin ist inhärent gierig, checkt jeden noch so wilden Claim bis zum Gehtnichtmehr ab und reißt sich dann alles unter den Nagel, was nachweislich funktioniert. Im Umkehrschluss: Konzepte, die nicht über kurz oder lang in die Medizin integriert werden, funktionieren halt einfach nicht!

Bleiben Sie mir gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

© Ralph Rückert

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