Von Ralph Rückert, Tierarzt
Der Schauspieler Klausjürgen Wussow hat mit seinem Prof. Dr. Brinkmann in der „Schwarzwaldklinik“ den letzten großen und nie echte Fehler begehenden Halbgott in makellosem Weiß gespielt. Bald darauf, beginnend in den 90ern des letzten Jahrhunderts, wurde mit „Emergency Room“, „Grey’s Anatomy“ und „Dr. House“ eine ganz andere Darstellung von Mediziner:innen populär. Die Protagonistinnen und Protagonisten dieser Serien waren zwar immer noch irgendwie heroische Figuren, wie sie jede gute Geschichte braucht, aber eigentlich keine Halbgötter mehr, sondern Menschen mit allzu menschlichen Eigenschaften und Problemen, die sowohl in ihrem Beruf als auch ihrem Privatleben jede Menge Fehler machten und außerdem die meiste Zeit nicht in Weiß, sondern in Scrubs oder – wie Gregory House – in Zivilkleidung rumrannten.
Auf uns Tierärztinnen und Tierärzte, die wir gefühlt unser halbes Studium in Gummistiefeln und -schürze, knöcheltief im Mist stehend und mit dem Arm im Hintern einer Kuh verbracht haben, hat das mit den „Halbgöttern in Weiß“ sowieso nie wirklich gepasst. Ich musste immer schon und muss immer noch innerlich grinsen, wenn ich Kolleginnen und Kollegen in Blütenweiß sehe, weil das angesichts der Tatsache, dass diese Art der Kleidung selbst in einer Kleintierpraxis keine halbe Stunde wirklich weiß bleibt, irgendwie ein leicht verkrampftes Bemühen um ein humanmedizinisches Image ausstrahlt.
„Halbgott in Weiß“. Kümmern wir uns erst mal schnell um das „Weiß“: Warum überhaupt wurde Weiß zur Berufsfarbe der Medizin? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde klar, dass Mikroorganismen wie Bakterien für viele Erkrankungen verantwortlich waren und häufig den Erfolg der Chirurgen gefährden konnten, weil sehr viele Patienten an postoperativen Wundinfektionen starben. Vor diesen Erkenntnissen war es für Chirurgen üblich, in ganz normaler Straßenkleidung und mit nackten Händen zu operieren. Das Bild oben wurde 1879 gemalt und zeigt den damals sehr prominenten amerikanischen Chirurgen Samuel D. Gross in einem OP-Hörsaal bei der Operation eines Patienten. Man beachte die für die damalige Zeit völlig normale und sogar schicke Alltagskleidung und die blutige, ein Skalpell haltende Hand von Gross. Mit dem heutigen mikrobiologischen Wissen sträuben sich einem bei Betrachtung des Bildes alle, wirklich alle Haare. Die Entdeckung der Mikroorganismen und ihrer Rolle als Auslöser von Wundinfektionen führte zu zunehmenden Bemühungen, diese von den Patienten fernzuhalten, also zu Anti- und Asepsis-Konzepten. Es wurde klar, dass der Arzt selbst, mit seiner Kleidung, seinen ungewaschenen Händen, mit seiner Atemluft eine Quelle des Verderbens für seine Patienten sein konnte. Fotos der Chirurgen Johann v. Mikulicz und Ernst v. Bergmann, die gerade mal 20 Jahre nach dem Gross-Gemälde aufgenommen wurden, zeigen bereits in Weiß gekleidete OP-Teams, im Fall von Mikulicz sogar bereits mit Masken und Kopfhauben. Die weiße Oberbekleidung hatte und hat natürlich zwei handfeste Vorteile: Erstens kann sie in die Kochwäsche und ist danach auch aus mikrobiologischer Sicht wirklich sauber, zweitens macht sie jede Art von Kontamination durch Blut und andere Körperflüssigkeiten sofort auffällig und erzwingt einen Wechsel, wenn man nicht völlig verratzt rumlaufen will. So wurde aus dem Sachzwang am Ende auch ein Signal, eine Botschaft an die Patienten: Ich bin blitzsauber, an mir sind keine bösen Mikroben zu finden, die dir schaden könnten!
Gut, nach diesem kurzen Exkurs jetzt zum eigentlichen Problem, das mit dem „Halbgott“. Ich habe mit flüchtiger Suche nicht herausfinden können, ab wann genau der Begriff „Halbgott in Weiß“ sprachhistorisch gesehen aufkam, kann mir aber gut vorstellen, dass er direkt oder indirekt mit den Ärzten der heroischen Phase der Chirurgie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden ist. DER Halbgott in Weiß schlechthin war ja (mal mindestens im deutschsprachigen Raum) Ferdinand Sauerbruch, so berühmt für sein hervorragendes Können und seine wirklich enorm wichtigen Innovationen wie berüchtigt für sein Temperament, seine Halsstarrigkeit und seine Selbstgefälligkeit.
Man macht aber sicher einen Fehler, wenn man jemand wie Sauerbruch losgelöst von seinem historischen Kontext und nur aus heutiger Sicht betrachtet. Natürlich waren Chefärzte bzw. Ärzte ganz allgemein in der damaligen Zeit hochgradig autoritär und nicht mal ansatzweise geneigt, ihre Vorgehensweisen mit ihren Untergebenen oder ihren Patientinnen und Patienten zu diskutieren. Allerdings waren sie auch Teil einer autoritären Epoche, in der Statusunterschiede und das Prinzip von Befehl und Gehorsam felsenfest etabliert waren. Chefärzte waren in ihrer Macht und ihrem Einfluss tatsächlich halbe Götter, die – völlig uneingeschränkt von Regelungen, die für uns heute selbstverständlich sind – über Wohl und Wehe aller Untergebenen und Patienten entscheiden konnten.
Honoratioren wie Ärzte, Apotheker, Professoren, Offiziere, Adlige, etc. schwebten in Bezug auf Bildung, Wissen und Status meilenweit über der Normalbevölkerung. Das (nicht nur) gefühlte Wissensgefälle zwischen einem Medizinprofessor und einem Normalbürger war damals noch geradezu unermesslich. Ein Informationszugang für Laien in medizinischen Fragen war buchstäblich nicht existent. Die Kompetenz eines Arztes bzw. einer medizinischen Einrichtung war allenfalls über Mundpropaganda zu beurteilen. Wirklich kranke Patientinnen und Patienten hatten nur die Möglichkeit, sich in vollstem Vertrauen in die Hände des Arztes zu begeben. Irgendeine noch so verschwommene Ahnung von dem, was er mit ihnen machen würde, hatten sie im Gegensatz zu den zumindest halbwegs informierten Patient:innen von heute nicht.
Zudem muss man eingestehen, dass die bestimmenden Ärzte dieser Zeit, in der die Medizin sich endgültig aus rabenschwarzer Finsternis ins Licht der Wissenschaftlichkeit erhob, über einen Mindset verfügen mussten, der einem auch heute noch einen mit Gruseln kombinierten Respekt abfordert. Viele der nach wie vor üblichen chirurgischen Standardverfahren wurden damals mit einem enormen persönlichen Mut entwickelt, allerdings unter Inkaufnahme von vielen Opfern anfänglicher Misserfolge, was man ja auch erst mal persönlich verkraften können musste. Um in dieser Epoche erfolgreich zu sein, war es wohl unvermeidlich, dass Ärzte sich tatsächlich wie Halbgötter fühlten und gaben.
Hierarchische und autoritäre Denk- und Organisationsstrukturen hinterlassen bis heute ihre Spuren in der Medizin, wurden aber inzwischen durch diverse gesellschaftliche, medizinische und rechtliche Entwicklungen deutlich entschärft. Der Vorwurf „Halbgötter in Weiß“ aber ist geblieben und kommt natürlich speziell dann zur Anwendung, wenn man mit Mediziner:innen unzufrieden ist, denn das Lustige ist ja, dass man immer dann, wenn es einem echt dreckig geht, inbrünstig darauf hofft, an eine Halbgöttin oder einen Halbgott zu geraten, die/der alles wieder gut macht. Geht es um Kopf und Kragen, möchte man nur allzu gern von Übermenschen behandelt und geheilt werden.
Das ist auch der Grund, warum ich bei diesem Vorwurf, den ich natürlich auch schon das eine oder andere Mal an den Kopf geworfen bekommen habe, immer ein Stück weit amüsiert bin. Es steckt ja durchaus ein Körnchen Wahrheit drin! Die Medizin ist nun mal ein ganz spezieller Beruf, wo man jeden Tag Leben und Tod seiner Patienten in der Hand hat. Und wenn ich mal wieder ein Leben gerettet oder ein schwerwiegendes Problem erfolgreich therapiert habe, dann habe ich mich tatsächlich gelegentlich wie ein Halbgott gefühlt. Außerdem gibt es unter uns Mediziner:innen Leute, deren Fähigkeiten selbst ich als halbgottähnlich ansehe. Wenn sich zum Beispiel ein Hirnchirurg acht Stunden lang, durch sein OP-Mikroskop starrend, Zehntelmillimeter für Zehntelmillimeter auf einen Hirntumor zuarbeitet, in der sicheren Gewissheit, dass der winzigste Fehler für den Patienten das Aus bedeutet, habe ich allergrößte Bewunderung für diese Leistung.
Nun gehen aber hervorragende medizinische Fähigkeiten keineswegs zwangsläufig mit angenehmen Charaktereigenschaften und hoher Sozialkompetenz einher. Manchmal habe ich sogar das Gefühl (ohne es belegen zu können), dass vielleicht sogar eher das Gegenteil der Fall ist. Ich kenne auf jeden Fall so einige Kolleginnen und Kollegen, bei denen ich mich aus medizinischer Sicht hervorragend aufgehoben fühlen, mit denen ich aber nie im Leben auf ein Bier gehen wollen würde.
Treffen nun überdurchschnittliche medizinische Fähigkeiten mit problematischen Eigenschaften im Umgang mit Patient:innen zusammen, bedeutet das natürlich – insbesondere im Konfliktfall – neues Wasser auf die Mühlen vom „Halbgott in Weiß“. Auf der anderen Seite bekommen die von uns, die sich im Umgang mit anderen Menschen leicht tun, diese Formulierung weniger häufig zu hören. Insgesamt denke ich, dass wir Mediziner einfach damit werden leben müssen, dass wir das immer wieder mal vorgeworfen bekommen, zumal es ja – wie erläutert – nicht komplett an der Realität vorbeigeht.
Allerdings müssen wir auf einen Punkt besonders achten: Das Gefühl, in Bezug auf Lebensrettung, Heilung und Leidensverbesserung über annähernd halbgottähnliche Fähigkeiten zu verfügen, darf uns auf keinen Fall dazu verleiten, die Möglichkeit, dass einem zwangsläufig immer mal wieder echte Fehler unterlaufen, sofort und reflexartig von uns zu weisen. Der Umgang mit Fehlern, heute auch Fehlerkultur genannt, macht nämlich in meinen Augen den einen entscheidenden Unterschied aus zwischen den „guten“ und von der Öffentlichkeit akzeptierten und den „schlechten“, wirklich toxischen „Halbgöttinnen und -göttern in Weiß“.
Und um genau dieses Thema, also den Umgang mit Fehlern, soll es dann im nächsten Artikel gehen.
Bleiben Sie mir gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Ralph Rückert
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