Von Ralph Rückert, Tierarzt
Ich bin gerade dieser Tage über ein Reel einer Frau Ellen Oborovski, die wohl ihre Brötchen mit „Tierkommunikation“ verdient, gestolpert. Schauen Sie sich das bitte kurz an, damit Sie wissen, um was es geht:
https://www.facebook.com/reel/1286943442679046
Den recht schwer lesbaren Begleittext des Reels zitiere ich aus Bequemlichkeitsgründen hier nochmal wörtlich:
„Gestern saß ich beim Tierarzt – und mir wurde wieder klar, wie tief dieses System noch schläft. Ein kleiner Eingriff. Ein einfacher Wunsch nach zusätzlicher örtlicher Betäubung.
Und was bekomme ich? „Machen wir nicht. Ich weiß, wie das läuft.“ Hier geht’s nicht nur um meinen Hund. Hier geht’s um uns alle. Eine Vollnarkose bedeutet: Das Bewusstsein schläft – doch Körper und Unterbewusstsein sind hellwach. Alles, was in dieser Zeit passiert, wird gespeichert: Schmerz, Angst, Kontrollverlust. Das ist Trauma. Punkt.
Und genau deshalb dürfen wir nicht länger brav nicken. Wir dürfen Fragen stellen. Wir dürfen fordern. Wir dürfen NEIN sagen, wenn wir spüren, dass es nicht stimmig ist.
Dein Tier braucht deine Stimme. Nicht den bequemen Weg. Nicht das „Das machen wir hier immer so“. Lasst uns darüber reden. Teile deine Erfahrungen – denn nur wenn wir sie laut machen, kann sich etwas ändern.“
Frau Oborovski erzählt, dass ihrem Hund, einem Rhodesian Ridgeback, eine kleine Umfangsvermehrung der Haut operativ entfernt werden sollte. Sie bat den behandelnden Tierarzt, trotz Vollnarkose ein Lokalanästhetikum einzusetzen und ist damit abgeblitzt. Den Wunsch nach einer zusätzlichen Lokalen trotz Vollnarkose begründet sie so:
„Doch hier das Problem: Eine Vollnarkose schaltet nur dein Bewusstsein aus, dein Körper spürt, dein Unterbewusstsein hört. Alles, was währenddessen passiert, wird abgespeichert, als Trauma im Gewebe, im Nervensystem, in der Seele.“
Jetzt ist man natürlich schnell dabei – schon allein aufgrund des esoterisch-schwurbligen Broterwerbs – die Einlassungen von Frau Oborovski gleich mal als Unsinn vom Tisch zu wischen. Das wäre aber voreilig, denn sie hat da tatsächlich einen Punkt, wenn sie auch am Ende die völlig falschen Schlüsse zieht, indem sie einen Systemfehler der Tier- und Humanmedizin unterstellt. Wäre sie nämlich mit ihrem Hund und der genannten Aufgabenstellung bei mir oder bei vielen mir bekannten Kolleginnen und Kollegen gewesen, hätte sie noch nicht mal um eine zusätzliche Lokalanästhesie bitten müssen, weil die sowieso gemacht worden wäre. Die tieranästhesiologische Forderung, wo immer möglich auch zusätzliche Lokal- oder Leitungsanästhesien einzusetzen, begleitet mich – in den entsprechenden Lehrbüchern und bei Fortbildungsveranstaltungen – schon mein ganzes und inzwischen langes Tierarztleben.
Warum macht man sowas, obwohl ja eigentlich eine Vollnarkose per Definition Schmerzfreiheit garantieren muss? Eine echte Vollnarkose steht auf drei Säulen: Bewusstseinsverlust (Fachausdruck Hypnose), Schmerzfreiheit (Analgesie) und Muskelentspannung (Relaxation). Moderne Narkosen sind modular aufgebaut, was bedeutet, dass diese Anforderungen nicht durch ein einziges, sondern durch mehrere Medikamente erfüllt werden. Für die effektive Schmerzausschaltung werden heutzutage vor allem das Fentanyl und seine moderneren Abkömmlinge verwendet. Das sind sozusagen „Supermorphine“ mit einer 50 – 100fach höheren Wirksamkeit und deutlich weniger unerwünschten Wirkungen als Morphin. Nichtsdestotrotz sind es pauschal diese schmerzunterdrückenden Wirkstoffe, die wegen ihrer atmungs- und kreislaufdepressiven Eigenschaften am ehesten Narkosezwischenfälle auslösen. Je weniger man davon braucht, desto besser. Und da kommen eben lokal-, regional- bzw. leitungsanästhetische Techniken ins Spiel, weil die eine Reduktion der analgetisch wirksamen Substanzen ermöglichen. In manchen Fällen, zum Beispiel bei der von Frau Oborovski beschriebenen Entfernung eines kleinen Hautknubbels, kann man mit einer gut sitzenden Lokalanästhesie sogar ganz auf Morphine (und ihre unerwünschten Wirkungen) verzichten.
Ein zusätzlicher und nicht zu unterschätzender Vorteil für den Patienten ist eine durch Lokal- oder Leitungsanästhesie erzielbare und deutliche postoperative Schmerzreduktion. Auch die Entwicklung chronischer postoperativer Schmerzzustände (man denke an die sogenannten Phantomschmerzen nach Amputationen) kann durch die Verwendung von Lokalanästhetika verhindert werden.
Die Kombination von Vollnarkose und Lokal- bzw. Leitungsanästhesie wird also in der Tiermedizin (und meines Wissens auch in der Humanmedizin) in sehr vielen Fällen eingesetzt. Um nur ein paar Beispiele aufzuführen: Kleinere Hauttumorentfernungen, Kastrationen, Vasektomien, Eingriffe an den unteren Extremitäten, Zahn- und Kieferoperationen, Augeneingriffe, etc. pp..
Was Frau Oborovski gegen Ende ihres Reels sagt…
„Ich frag mich, warum ist es denn so schwer, neue Erkenntnisse zuzulassen, warum gilt in der klassischen Medizin noch immer: Wir machen das so, weil wir es immer so gemacht haben?“
…ist also gleich unter zwei Gesichtspunkten falsch: Erstens sind das eigentlich absolut keine neuen, sondern jahrzehntealte Erkenntnisse. Zweitens werden diese Erkenntnisse sowohl im Tier- als auch Humanbereich durchaus routinemäßig auf breiter Ebene umgesetzt.
Schlussfolgerung: Das „System“ hat das, was Frau Oborovski sich vorstellt, schon lange drauf. Dass der von ihr konsultierte Kollege das nicht so umsetzen kann oder will, ist ein individuelles Problem, sagt aber nichts über die Gesamtsituation aus. Aber so ist das halt häufig, wenn man gewohnheitsmäßig das persönliche Erlebnis, die Anekdote, als Beweis für wer weiß was ansieht.
Bleiben Sie mir gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Ralph Rückert
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