Vom Umgang mit Fehlern in der Tiermedizin

Von Ralph Rückert, Tierarzt

Anekdote 1: Vor nun sicher schon 25 Jahren wurde einer guten Bekannten, ihres Zeichens Gymnasiallehrerin, in relativ frühem Alter (so um die 40) vom hoch angesehenen Chef einer Uniklinik eine Hüft-Endoprothese eingebaut. Die OP verlief gut, ebenso die unmittelbare Heilung. Das funktionelle Ergebnis aber war mehr oder weniger katastrophal, mit anhaltenden Schmerzen und schlimmerer Gehbehinderung als vor dem Eingriff. Natürlich wurde unsere Bekannte mehrfach wieder vorstellig und beklagte sich über diesen unschönen Verlauf. Ebenso oft wurde ihr im Brustton der Überzeugung versichert, dass alles hochprima wäre und sie einfach Geduld haben müsse. Das Ende vom Lied: Nach über neun Monaten Quälerei und verlorener Zeit stellte sich die Lehrerin einem anderen, ebenfalls hoch angesehenen Chirurgen vor, der klare technische Fehler (falsche Länge und Winkelung der Endoprothese) bei der Erstoperation diagnostizierte und ein neues Hüftgelenk einsetzte. Diese Maßnahme führte nun zu einer deutlichen Besserung der Beschwerden, aber so richtig gut wurde es durch die zwischenzeitlich entstandenen Sekundärschäden nie mehr. Sie können sich die Erbitterung der Patientin sicher lebhaft vorstellen. Wir haben uns damals leider aus den Augen verloren, so dass ich nicht weiß, ob sie rechtlich gegen den Erstoperateur vorgegangen ist.

Anekdote 2: Anfang des neuen Jahrtausends gab es in einem tiermedizinischen Mailforum eine Diskussion um einen dem Threadstarter bewussten Behandlungsfehler und wie man damit umgehen sollte. Gefühlt über 90 Prozent der an der Diskussion beteiligten Kolleginnen und Kollegen haben dringend dazu geraten, den Fehler keinesfalls einzugestehen, sondern den Fall nur kommentarlos an die Haftpflichtversicherung zur Prüfung der Ansprüche der Patientenbesitzerin weiterzuleiten, da ansonsten die Gefahr bestünde, dass die Versicherung jede Leistung ablehnen würde.

Anekdote 3: Als blutiger Anfänger hatte ich einen Zierfinken-Zuchtbestand mit mehr als 40 Vögeln zu behandeln. In dem Bestand war eine Atemwegsinfektion ausgebrochen, die schon zu zwei, drei Todesfällen geführt hatte. Ich war mir unsicher und holte mir Rat an der Vogelklinik meiner ehemaligen Uni. Bei dieser Kommunikation muss irgendwas schief gelaufen sein, entweder bei meinem Gesprächspartner oder in meinem Kopf. Die Finken wurden von mir alle mit einem hochwirksamen Antibiotikum gespritzt, allerdings um eine Kommastelle falsch berechnet, so dass alle Vögel eine zehnfache Überdosis bekamen. Ich war noch nicht wieder zurück in der Praxis, als die ersten Tiere von der Stange fielen und verstarben. Am Ende hat diesen Fehler keiner der Vögel überlebt. Der rein finanzielle Schaden für den Vogelzüchter belief sich auf über 3000 Mark, und obwohl ich schnell dahinter gekommen bin, was schief gelaufen war und das gegenüber dem Züchter auch offen kommuniziert habe, hat meine Versicherung den Schaden anstandslos ausgeglichen.

Anekdote 4: Vor auch schon wieder ganz schön vielen Jahren habe ich einen Hund an den Augen operiert, nach einer Methode aus einem Lehrbuch aus meiner Bibliothek. Die Operation war überhaupt kein Erfolg, sondern führte zu einer Verschlechterung, so dass ich den Hund am Ende an einen Spezialisten überwiesen habe. Der Kollege hat mich dann angerufen und mich mit spürbarem Entsetzen gefragt, was ich denn da gemacht hätte. Auf meinen Hinweis, dass meine Vorgehensweise aus dem Lehrbuch XY stammen würde, führte er aus, dass sowohl das Lehrbuch als auch die Methode völlig veraltet und out wären. Ich habe daraufhin den Besitzer des Hundes um ein Gespräch gebeten, in dem ich völlig zerknirscht meinen Fehler erklärt und eine Kompensation angeboten habe. Der Besitzer wusste meine Offenheit zu schätzen und blieb die ganzen Jahre bis zum Ende meiner praktischen Tätigkeit mein treuer Kunde.

Anekdote 5: Neulich gab es in einer Internet-Fachgruppe wieder eine Diskussion um einen klaren Behandlungsfehler, fast genauso wie 25 Jahre früher in dem Mailforum. Diesmal haben gefühlt über 90 Prozent der Kolleginnen und Kollegen zur sofortigen und klaren Kommunikation des Fehlers geraten und – ganz wichtig – auch aufmunternde und unterstützende Worte an die Kollegin gerichtet, die den Thread gestartet hatte.

Es hat sich also was getan in den letzten 25 Jahren. Prof. Dr. Holger Volk, der Direktor der Kleintierklinik an der Tierärztlichen Hochschule Hannover, der ein bemerkenswertes Fehlerkultur-Projekt angestoßen hat, schreibt auf der entsprechenden Website zwar: „Fehler zu machen, ist menschlich. Dennoch erwarten Tierbesitzerinnen und Tierbesitzer sowie menschliche Patientinnen und Patienten (verständlicherweise), dass Behandlungen oder Eingriffe fehlerfrei durchgeführt werden. Aufgrund dieser hohen Erwartungen und der möglichen strafrechtlichen Konsequenzen wird in der Tier- und Humanmedizin bislang keine offene Fehlerkultur gelebt.“ Ich habe aber den Eindruck, dass sich in den Praxen und Kliniken, also „draußen an der Front“, durchaus bereits entscheidende Veränderungen im Umgang mit Fehlern ergeben haben, so im Sinne einer Grass-Roots-Bewegung. Möglicherweise haben wir bei dieser Entwicklung im Vergleich zur Humanmedizin sogar ein bisschen die Nase vorn, was daran liegen mag, dass Behandlungsfehler in der Tiermedizin deutlich seltener strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Allgemein gilt, dass wir zu einem möglichst offenen Umgang mit Fehlern kommen müssen, damit wir alle aus ihnen lernen können. Prof. Volk schreibt dazu:

„Das Ziel dieses Projekts ist es, eine objektive gesellschaftliche Debatte über eine offene und effektivere Fehlerkultur in der (Tier-)Medizin anzustoßen, die von der Gesellschaft befürwortet und aktiv unterstützt wird. Hierzu werden Fehlerkulturen anderer Branchen mit hoher Verantwortung untersucht, beispielsweise die Just Culture der Luftfahrt. Die Luftfahrt gilt oft als Paradebeispiel für eine offene und zielführende Fehlerkultur, die die Flugsicherheit nachweislich deutlich verbessert hat – ein Prozess, der kontinuierlich weiterentwickelt wird. Der Umgang mit Fehlern in der Luftfahrt ist nicht auf Bestrafung ausgerichtet, sondern zielt darauf ab, die Gesamtorganisation stetig zu verbessern. Auf dieser Grundlage ist es das Ziel des Projekts, mithilfe möglichst breit gefächerter Expertisen, eigener wissenschaftlicher Erkenntnisse und einer öffentlichen Diskussion ein Konzept zu entwickeln, das das Vertrauen zwischen der Tierärzteschaft und der Gesellschaft stärkt. Damit soll ein Kulturwandel im Umgang mit medizinischen Fehlern angestoßen werden.“

Meine praktisch tätigen Kolleginnen und Kollegen in den Praxen und Kliniken kann ich nur dazu ermutigen, sowohl gegenüber Patientenbesitzer:innen als auch untereinander offen mit Fehlern umzugehen. Ich bin ja keiner, der das nur predigt, ohne selber zu wissen, wie schrecklich schwer es im ersten Moment sein kann, für einen Fehler die volle Verantwortung zu übernehmen. Das kratzt schon sehr am Ego und an der Psyche. Nach meiner Erfahrung vermeidet eine ethisch und fachlich korrekte Fehlerkultur aber gleich mehrere Probleme auf einmal: Erstens kommen die Kundinnen und Kunden mit einem offen zugegebenen Fehler zwar nicht immer, aber in der Regel viel besser klar als mit irgendwelchen verdrucksten Ausflüchten oder gar Vertuschungsversuchen. Zweitens kann die Tiermedizin als Berufsstand sehr viel aus offen diskutierten Fehlern lernen, was mit einem ganz beträchtlichen Sicherheitsgewinn für alle Patienten der Zukunft einhergeht. Und drittens kann man – gerade durch das Besprechen eines Fehlers mit verständnisvollen und erfahrenen Kolleginnen und Kollegen – dem Second-Victim-Effekt entgehen oder ihn zumindest deutlich abmildern.

Bei einem Fehler oder unerwartet schlechtem Verlauf kann ein Patient zu Schaden oder gar ums Leben kommen, ist also das erste Opfer. Das zweite Opfer (second victim) ist aber fast unweigerlich die behandelnde Ärztin / der behandelnde Arzt, bei der bzw. dem häufig massive Probleme mit der Verarbeitung des Ereignisses entstehen, die sich bis zu einer echten Posttraumatischen Belastungsstörung auswachsen und dauerhaft negative Auswirkungen auf die weitere berufliche Entwicklung nehmen können. Angesichts der zahlreichen sonstigen psychischen Risiken unseres Berufs sollte man zumindest dem Second-Victim-Effekt tunlichst aus dem Weg gehen, was nur durch eine funktionierende Fehlerkultur ermöglicht wird.

Was können Sie, die Tierbesitzerinnen und -besitzer zu diesem Thema beitragen? Wie Prof. Volk schreibt, ist eine funktionierende Fehlerkultur effektiv, also von Nutzen für alle Beteiligten. Sie können davon ausgehen, dass Ihnen offen und ehrlich begegnet wird, und wir als Berufsstand lernen ständig aus Fehlern, was die Qualität der medizinischen Versorgung steigert und wiederum den Patienten der Zukunft zugutekommt. Holger Volk fordert nicht weniger als einen Kulturwandel. Er spricht damit aber nicht nur uns Tierärztinnen und Tierärzte an, sondern auch Sie, also unsere Kundinnen und Kunden. So ein Kulturwandel kann nur stattfinden, wenn alle Beteiligten kooperieren. So, wie Sie mehr und mehr darauf vertrauen müssen, dass Ihnen wirklich reiner Wein eingeschenkt wird, wenn ein Fehler passiert ist, werden wir als Berufsstand auch das Vertrauen entwickeln müssen, dass wir nicht gnadenlos in die Pfanne gehauen werden, wenn wir Fehler offen und ehrlich eingestehen. Nach meiner Erfahrung ist das durchaus der Fall. Andererseits besteht natürlich im Rahmen der heute üblichen Empörungsgesellschaft schon auch ein Stück weit die Gefahr, dass zu viele negative Erfahrungen mit Kundenreaktionen so eine Entwicklung wieder abwürgen können. Gibt man zu, dass was schiefgelaufen ist und wird dann dafür öffentlich hingerichtet, lernt man unweigerlich was draus, in diesem Zusammenhang leider das Falsche. Ich wünsche also allen meinen Kolleginnen und Kollegen, dass sie möglichst viele Kundinnen und Kunden haben mögen, die ohne Überreaktionen mit der Tatsache umgehen können, dass Fehler nun mal unweigerlich passieren, wo immer Menschen am Werk sind.

Würde das funktionieren, würde also das sowieso schon positiv veränderte Verhalten an der Basis durch Holger Volks Projekt noch verstärkt und systematisiert, wäre das in meinen Augen eine enorm begrüßenswerte Entwicklung für uns alle!

Bleiben Sie mir gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

© Ralph Rückert

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