Wie lernt man Operieren?

Von Ralph Rückert, Tierarzt

Neulich wurde mir auf Facebook diese – wie ich finde interessante – Frage gestellt:

„Lieber Herr Rückert, eine Frage beschäftigt mich schon seit längerer Zeit. Wie lernen Tierärzte Tiere zu operieren? Es gibt ja Tierchirurgen als Spezialzusatzausbildung an Kliniken, aber der normale Tierarzt? Ist es “learning bei doing” oder wo kommt dieses spezielle Wissen her? Ich spreche nicht von speziellen Tierkliniken. Ich meine den allgemeinen Tierarzt, der meistens auch operiert.“

Die moderne Chirurgie hat natürlich – wie alle medizinischen Fachrichtungen – eine wissenschaftliche Grundlage. Chirurginnen und Chirurgen können in der Regel wissenschaftlich begründen, warum sie dies oder jenes so oder so machen. Die Chirurgie ist aber insofern besonders, als sie Wissenschaft und Handwerk zu ziemlich gleichen Teilen miteinander kombiniert. Es wird oft gesagt, dass Chirurgie reines Handwerk wäre. Das ist nicht richtig! Wie ich eine OP ausführe, beruht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, die dann über manuelle Fähigkeiten umgesetzt werden.

Die chirurgische Wissenschaft lernt man an den Universitäten und aktualisiert sie lebenslang durch Fortbildungen und Literaturstudium. Wer seine Abschlussprüfungen geschafft und seine Bestallung (Approbation) erhalten hat, weiß jede Menge über Chirurgie: Wie komme ich zu einer chirurgischen Diagnose? Was für ein operatives Therapieverfahren ist für diese oder jene Diagnose angesagt? Was gibt es für chirurgische Instrumente? Wie ist die Prognose einer Therapie? Wie schneidet man? Was gibt es für Nahtverfahren? Wie heilt verletztes Gewebe überhaupt? Wie muss ich mit Gewebe umgehen, damit es möglichst schnell heilt? Was ist Asepsis und Antisepsis? Und so weiter und so fort, ich denke, Sie verstehen schon.

Das Vermitteln der manuellen Fähigkeiten, die für die diversen Operationsverfahren nötig sind, ist keine geeignete Aufgabe für die Universitäten, weil das bei Weitem zu aufwändig wäre. Es würde auch aus Rentabilitätsgründen überhaupt keinen Sinn machen, weil ja beileibe nicht alle Studentinnen und Studenten später chirurgisch tätig werden wollen. Deshalb lernt man das Operieren an sich draußen in den Praxen und Kliniken. Das beginnt idealerweise schon während des Studiums im Rahmen von verpflichtenden oder freiwilligen Praktika und setzt sich dann natürlich (bei entsprechendem Interesse an der Chirurgie) nach dem Berufseinstieg fort.

Das Erwerben chirurgischer Fertigkeiten erfolgt idealerweise in vier Schritten: Zuschauen, Mitmachen (Assistieren), Selbermachen unter Aufsicht und schließlich Selbermachen ohne Aufsicht. Die größte Hürde ist natürlich der Übergang vom zweiten zum dritten Schritt. Logischerweise fängt man mit den allereinfachsten Verfahren an, um sich dann in die schwierigeren Bereiche vorzuarbeiten. So ist in der Kleintiermedizin klassischerweise die Kastration des Katers die erste OP, die Anfänger:innen durchführen.

Nun gibt es ja unzählige Operationsverfahren, von sehr häufig gebrauchten bis zu sehr exotischen und seltenen. Muss man diese vier Schritte für jede Operation durchlaufen, die man am Ende beherrschen will? Nein, gute Nachricht, muss man nicht! Je mehr man in der Chirurgie lernt, je mehr man sich sozusagen freischwimmt, desto eher kann man auch ein bestimmtes Verfahren gleich aufs erste Mal erfolgreich umsetzen, das man vielleicht nur einmal gesehen oder von dem man sogar nur gelesen hat. Es ist ja klar: Wenn eine Chirurgin schon zehnmal selbständig eine Harnblase wieder verschlossen hat, kann sie sicher auch eine Gebärmutter nach Kaiserschnitt oder einen aufgeschnittenen Magen wieder dicht bekommen, ohne das spezifisch und in den erwähnten vier Schritten beigebracht zu bekommen. Je weiter man sich chirurgisch entwickelt, desto einfacher wird es, schriftliche, mündliche oder visuelle Handlungsanweisungen richtig umzusetzen. Wer schon mehrfach Darmanastomosen durchgeführt hat, dem reicht in der Regel der einmalige mündliche Hinweis, dass man beim Zusammennähen von Darmenden mit deutlich unterschiedlichem Durchmesser das dünnere Ende schräg anschneiden muss, um den Unterschied zu egalisieren.

Ab einem gewissen Kenntnisstand sind die vier Schritte dann nur noch für Operationen nötig, mit denen junge Chirurg:innen noch gar nichts zu tun hatten. Auch hier ist ja sicher wieder klar: Hat jemand bisher ausschließlich Weichteil- und Bauchchirurgie gemacht, will sich aber nun auch an Knochen und Gelenke wagen, geht es wieder (fast) bei Null los. „Fast“ deshalb, weil erfahrene Bauchchirurg:innen natürlich trotzdem keinen Unterricht mehr brauchen, was zum Beispiel das Schneiden und Nähen oder den korrekten Umgang mit Gewebe angeht.

Wie viel Schauen, Assistieren und Aufsicht jemand braucht, ist eine sehr individuelle Sache, darüber hinaus auch eine Frage des chirurgischen Talents und der Mentalität. Nicht jede oder jeder ist zur Chirurgin bzw. zum Chirurgen geboren, und das ist jetzt wirklich wertungsfrei gemeint. Die Fachrichtung begünstigt nicht gerade Leute, die zum Zaudern oder zu übermäßigen Selbstzweifeln neigen. Auch gibt es einfach manuell ungeschickte Menschen, die etwas viele Male gesehen haben, es aber trotzdem nicht wirklich in eigenes Handeln umsetzen können.

Die in der obigen Frage angesprochene Spezialisierung (als Fachtierärzt:in für Chirurgie) gibt es zwar, aber so gut wie alle allgemeinmedizinisch tätigen Tierärzt:innen führen – ganz im Gegensatz zu unseren Kolleginnen und Kollegen im Humanbereich – sehr viele Operationen selbst durch und überweisen nur die spezielleren Sachen an die chirurgischen Spezialist:innen. Für mich war die Chirurgie immer das Salz in der Suppe meines Berufs. Chirurgie hat immer eine spannende Komponente und bietet – für mich ganz wichtig – schnelle Erfolgserlebnisse, also das, was man neudeutsch „instant gratification“ nennt. Allgemeinmedizin nach humanmedizinischem Muster, also ganz und gar ohne Chirurgie, wäre mir entschieden zu langweilig gewesen.

Bleiben Sie mir gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

© Ralph Rückert

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