Achtung, Fake News: Tierarzt beklagt: 90% aller Menschen lassen ihr Tier beim Einschläfern alleine

Von Ralph Rückert, Tierarzt

Diese „Meldung“ geht seit Jahren (seit 2018?) im Netz rum und wird erstaunlich oft angeklickt, geteilt und kommentiert, obwohl sie zumindest hierzulande nicht mal annähernd der Realität entspricht. Wenn Sie den Blödsinn lesen wollen, obwohl er eigentlich nicht der Mühe wert ist, können Sie ihn leicht finden, indem Sie die Überschrift in eine Suchmaschine eingeben. Ich will da auf keinen Fall einen Link setzen, um nicht auch noch zur Verbreitung beizutragen.

Meiner persönlichen Erfahrung nach würde ich den Anteil der Besitzer:innen, die bei der Euthanasie ihres Tieres in meiner Praxis anwesend waren, mit über 95 Prozent beziffern. Natürlich weiß ich nicht, ob es da irgendwelche kulturellen Unterschiede gibt. Es könnte nach meinen Recherchen sein, dass diese Meldung ursprünglich aus Südafrika stammt und da ganz andere Gepflogenheiten herrschen als hier bei uns. Aber auch daran habe ich so meine Zweifel.

Also, wie gesagt: Die allermeisten Tierbesitzer:innen sind bei der Euthanasie dabei. Das ist der Normalfall, und es ist nicht nötig, in Social-Media-Kommentaren zu betonen, dass man selbst bei der Einschläferung seines Tieres anwesend war. Es gibt aber natürlich trotzdem Ausnahmen, auf die man ja ruhig mal ein bisschen detaillierter eingehen kann. Gerade aktuell wurde mir ein Reel eines jungen österreichischen Kollegen und Praxisinhabers in meine Timeline gespült, der schildert, dass eine Frau eben nicht dabei sein wollte, weil sie der Meinung war, dass das über ihre Kräfte ginge. Der Kollege schildert, dass er diese Kundin dann doch davon überzeugt hat, ihren Hund in dieser Situation nicht allein zu lassen.

Das kommt (auch nach meiner Erfahrung) durchaus vor. Emotionen sind schwer kontrollierbar und eine hochgradig individuelle Angelegenheit. Manche Menschen trauen sich einfach nicht zu, diese Belastung aushalten zu können. Manchmal kann man – wie der Kollege – solche Leute dann doch dazu ermutigen, im Sinne des Tieres die Zähne zusammenzubeißen. Andere, bei denen ich den Eindruck hatte, dass sie das einfach nicht packen, habe ich rausgehen lassen, denn von einer völlig zusammenbrechenden Besitzerin hat niemand was, auch der Hund nicht. Bei diesen Tieren war es dann halt unsere Aufgabe als Profis, ihnen – wie bei einer Narkoseeinleitung ja auch – ein sicheres und geborgenes Gefühl zu vermitteln, was uns meist gelungen ist, wie ich behaupten möchte.

Ein anderer Grund, warum wir gelegentlich Tierbesitzer:innen rausgeschickt haben, waren anwesende Kinder. Es ist sicher ein strittiger Punkt, zu dem man auch mal Fachleute befragen müsste, ab welchem Alter Kinder Zeugen einer Euthanasie das vierbeinigen Familienmitglieds werden sollen oder können. Ich bin da über die Jahre eher vorsichtiger und konservativer geworden, weil ich am Beispiel meiner eigenen Tochter beobachten konnte, dass das Miterleben eines solchen Vorgangs durchaus längerfristige Probleme mit sich bringen kann. Ich weiß nicht, ob man da mit der Bezeichnung Posttraumatisches Stress-Syndrom (PTSD) zu hoch ins Regal greift, würde aber insgesamt zu der Haltung „im Zweifel für das Kind“ tendieren. Ich will da, eben mangels Fachkenntnissen in Sachen Kinderpsychologie, eigentlich keine festen Altersgrenzen setzen und habe das auch immer aus dem Bauch heraus und individuell entschieden. Wenn Sie mich festnageln wollen, würde ich behaupten, dass viele Kinder unter 12 Jahren Probleme mit der Verarbeitung eines solchen Erlebnisses bekommen könnten. Jüngere Kinder wirken während des Vorgangs oft erstaunlich emotionslos bzw. ungerührt, allerdings haben wir immer wieder mal die Rückmeldung bekommen, dass die längerfristige Verarbeitung dann doch große Probleme bereitet hat.

Darüber sollte man als Eltern natürlich – wenn es organisatorisch möglich ist – nachdenken, bevor man mit einem kritisch erkrankten Tier, bei dem eine eventuelle Euthanasie im Raum steht, die Tierarztpraxis aufsucht und dazu Kinder mitbringt. Manchmal geht das nicht, zum Beispiel bei einem Notfallereignis, und dann sind Kinder halt anwesend. Und in solchen Fällen haben wir dann eben den Eltern geraten, lieber mit dem Kind / den Kindern ins Wartezimmer zu gehen und ihnen dort in Ruhe zu erklären, was jetzt passieren wird.

Bei noch kleinen oder von den Eltern als sehr sensibel eingeschätzten Kindern haben wir sogar empfohlen, die Praxis zu verlassen und dem Kind zu erzählen, dass das Tier „im Krankenhaus“ bleiben müsse, weil es sehr, sehr krank ist, und dann erst nach zwei, drei Tagen zu sagen, dass es „im Krankenhaus“ gestorben ist. Ja, man belügt das Kind damit aktiv, schon klar. Muss natürlich jede und jeder selber wissen, ob das okay ist oder nicht. In meiner Vorstellungswelt ist eine solche „weiße Lüge“ zum Schutz einer empfindlichen Kinderseele auf jeden Fall gerechtfertigt.

Die genau gleichen Überlegungen gelten natürlich auch für Haus-Euthanasien. Mir ist oft genug ein bisschen schwummrig geworden, wenn ich bei solchen Anlässen in die großen Augen von kleinen Kindern geschaut und mich gefragt habe, wie die das jetzt wohl verarbeiten werden.

Und dann gab es noch diese für alle Beteiligten sehr unangenehmen Fälle, in denen Besitzer:innen das Tier für eine diagnostische oder therapeutische Maßnahme in Narkose bei uns abgegeben haben, selbst aber zum Arbeiten oder zu anderen zwingenden Terminen mussten. Ergab sich dann unerwarteterweise eine Euthanasieindikation, konnte das oft nur telefonisch besprochen werden. Es ist natürlich überhaupt nicht okay, ein Tier, das schon in Narkose liegt und bei dem ein mit dem Weiterleben nicht vereinbarer Befund ermittelt wurde, nochmal aufwachen zu lassen und dann später zu euthanasieren, damit die Besitzer:innen dabei sein können. Die gleiche Fallkonstellation kann sich auch bei schwer kranken Tieren in stationärer Pflege ergeben, wenn sich eine schnell verlaufende und mit schwerem Leiden verbundene Befindensverschlechterung einstellt, die aus tiermedizinischer Sicht eine sofortige Euthanasie erfordert, die Besitzer:innen aber nicht schnell genug die Praxis oder Klinik erreichen können, um bei dem Vorgang anwesend zu sein.

Take-Home-Message: Der eingangs erwähnte und offenbar nicht tot zu kriegende Text ist Bullshit! Er sollte weder weiter verbreitet noch kommentiert werden. Die allermeisten Tiere werden hierzulande in Anwesenheit ihrer Besitzer:innen euthanasiert. Die wenigen Ausnahmen sind begründet im Schutz von entweder Menschen, die das individuell einfach nicht verkraften können (was zu respektieren ist!), oder von Kindern, die zu jung sind, um solche Vorgänge korrekt verarbeiten zu können, oder von Tieren, bei denen eine Notlage die sofortige Euthanasie erzwingt, ohne dass die Besitzer:innen noch rechtzeitig die Praxis oder Klinik erreichen können. Solche Umstände gibt es nun mal, und das soll und darf keinen Anlass darstellen, irgendwelche Urteile über andere Menschen zu fällen!

Seien Sie sicher, dass wir uns immer sehr bemüht haben, die Tiere, die wir in Abwesenheit ihrer Besitzer:innen einschläfern mussten, genau so zu behandeln, als ob es unsere eigenen wären. Ich gehe davon aus, dass ich mit dieser Zusicherung auch für so gut wie alle meine Kolleginnen und Kollegen spreche.

Bleiben Sie mir gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

© Ralph Rückert

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